jerusalem 2011
um 6 uhr weckt mich cleo, der hauskater.
mit kläglichem gemauze, als hätte ich seine sämtlichen vorfahren ausgerottet.
boris, der straßenkater, schreit noch lauter. jedes mal, wenn ich aus der haustür trete, begrüßt er mich vorwurfsvoll und will gefüttert werden.
er hockt auf dem mäuerchen vor dem überdachten balkon, auf dem ich rauche, und stimmt sein klagelied an.
cleo schläft auf dem sofa, vorm heizstrahler, unberührt vom geschrei seines artgenossen.
ich hör ihnen zu.
nummer 19
nach har hazofim
mount scopus
zur uni
das benehmen beim ablochen lassen der buskarten hab ich mir schnell abgeschaut.
kein shalom oder ein sonstiger gruß, schweigend reicht man das zehnerticket dem fahrer, der mit einer lochzange ein kästchen oder sternchen zwickt.
auch weiß ich bald, bei welchen stationen die aussicht besteht, einen sitzplatz zu bekommen.
viele lesen ihre morgengebete aus alten büchern, vor sich hinmurmelnd.
oder hören musik.
zu jeder vollen stunde nachrichten, der busfahrer dreht sein radio dann laut und die fahrgäste lauschen den neuesten berichten aus ägypten.
auch in jemen gehen die menschen auf die straße.
wenn es regnet, tragen die orthodoxen männer durchsichtige plastikhüllen über ihren schwarzen hüten.
wie ich die männer hier finde, fragt mich nomi.
ein wenig oberflächlich, antworte ich.
i don’t like them at all, sagt sie.
ihr freund ist spanier.
er ist grad im libanon, auf urlaub, einfach so.
wir rauchen wasserpfeife im jerusalem hotel, einem netten lokal, mit plastikdach, das im winter über dem garten befestigt wird.
avishag, nomi und ich.
ein junger mann kommt ins lokal, avishag winkt ihm, macht ihm platz an unserem tisch.
doch er hat’s eilig, bleibt stehen.
ein palästinensischer jurist ohne arbeitserlaubnis.
nomis schwester heißt auch esther, wie ich, teilt sie mir mit.
sie sei 25 und wisse nicht wohin im leben.
jetzt lernt sie hundefriseurin.
auf der uni sprechen wir über das idf trauma.
jeder junge mann und jede junge frau dient jahrelang in der armee, auch in den besetzten gebieten oder an den checkpoints. gehorsam und stark, auf der guten seite, für die sicherheit des landes. danach schweigen die soldaten und soldatinnen über ihre zeit in der armee und gehen auf reisen. möglichst weit weg, möglichst lang, möglichst exotisch.
2004 gründete jehuda schaul mit anderen exsoldaten die bürgerrechtsbewegung shovrim stika, das schweigen brechen, und machte öffentlich, wie im besetzeralltag mit dem ethischen kodex der israelischen armee umgegangen wird. die sprache ist gesäubert, das blut und die toten existieren nicht. man spricht nicht über tote zivilisten, sondern über kollateralschäden. fotos und interviews sorgten vor allem nach der cast lead operation 2009 im gaza streifen für aufsehen. netanjahu forderte die internationalen geldgeber auf, der organisation keine unterstützung mehr zu gewähren.
hodija, unsere vortragende, hat während ihrer armeezeit gruppen in naturschutzgebieten geführt und die pflanzen erklärt.
nein, sie habe kein trauma.
im bus
ein junger mann mit kipa hat vergessen, sich sein umsteigeticket vom fahrer geben zu lassen. er geht nach vorn, um sein versäumnis nachzuholen, doch der busfahrer verweigert. das habe beim einsteigen zu geschehen. die beiden streiten den ganzen weg vom campus in die stadt hinunter. der junge blonde gibt nicht auf, er blockiert den einstieg. sie schreien sich an, der ganze bus ist gespannt. ein arabischer mann steigt ein, mit seiner frau. er wartet darauf, seine tickets zu lösen, und kriegt mit, was vorgeht. dann zahlt er und steckt heimlich dem jungen sein umsteigeticket zu.
im unterricht lesen wir einen text von dan pagis. 1930 im damals rumänischen teil der bukovina geboren, wuchs er deutschsprachig auf. 1941 geriet er in die shoa, 1946 wanderte er allein nach israel ein und schrieb schon bald seine ersten gedichte, auf hebräisch. echos seiner deutschen muttersprache finden sich immer wieder in seinem werk. er starb 1986 in jerusalem.
written with pencil on a closed railway car
i am eve
with abel my son
if you see my older son
cain, son of adam
tell him that i
ob es möglich wäre, mit den mitteln der kunst das unvorstellbare grauen darzustellen, fragt das lehrbuch.
aber was, wenn die darstellung schön ist? ästhetisch? zum lachen?
freitag 16uhr
die stadt eilt nach hause.
der supermarkt hat schon zu, doch der 24/7 laden in meiner straße sollte noch offen haben. ich habe nur mehr katzenfutter zu hause, und ein paar oliven. nicht einmal jochanan, der ein falafelgeschäft betreibt, traut sich, am shabat offen zu halten, aus angst vor seinen orthodoxen landsleuten.
die stadt wird ruhig.
kaum mehr autos auf den straßen, ein paar menschen huschen hastig noch irgendwohin.
jetzt werden zwei kerzen angezündet.
dann in die synagoge.
später ißt man gemeinsam mit familie oder freunden.
in der wohnung nebenan werden religiöse lieder gesungen, als es dunkelt. ich höre fast jedes wort durch die dünnen wände.
erst samstag abend wird es wieder laut, draußen, auf den straßen.
ben jehuda street, fußgängerzone.
ein paar junge leute sitzen am boden, trommelnd und lachend. vor ihnen ein schild: hugs 1 schekel, steht da geschrieben, auf englisch.
ich entdecke einen laden, in dem t-shirts bedruckt werden.
gun’s and moses, steht auf einem, und auf einem anderen: america don’t be afraid, israel is behind you.
ob ich etwas suche, fragt mich ein mann mit tränendem auge. wir gehen ein paar schritte gemeinsam die straße entlang und unterhalten uns. dann bleibt er stehen und blättert in dem kleinen büchlein, das er die ganze zeit schon in der hand hielt. jerusalem of gold, fängt er an zu singen, tränen rinnen aus seinem rechten auge die wange hinab.
dann fragt er mich, ob er mir dieses büchlein mit religiösen liedern schenken dürfe.
dankend lehne ich ab.
havgana
jeden freitag um zwei uhr ist eine demonstration. es geht um die rückgabe palästinensischer häuser, von juden bewohnt, mitten in der stadt.
etwa hundert leute stehen am treffpunkt in der nähe des damaskustors, die meisten sprechen englisch. ich bin mit avishag unterwegs. vorsichtig frage ich sie nach ihrer politischer meinung. ob sie in irgendeiner politischen bewegung sei? nein, sagt sie, sie hasse das. sie geht lieber aus, mit ihren arabischen freunden.
zwei orangensaftverkäufer stehen in der menge und preisen laut ihren frisch gepressten orangensaft an. tapusim, tapusim, einander übertönend. jemand teilt plakate aus, jemand filmt.
siehst du den typ mit der kamera? mit dem langen objektiv? fragt mich avishag.
ja, sehe ich.
manchmal kann man an sowas die schwanzgröße erahnen, sagt sie.
die menschen kommen in bewegung. wir gehen mit, versuchen, am rand der parolen schreienden menge zu bleiben. zwei ordnungshüter auf pferden reiten dazwischen, zwei polizisten sitzen im auto, beobachten.
zeit für einen ortswechsel, meint avishag, als die beiden aussteigen. wir gehen ein paar schritte weiter weg, und steigen ein paar stufen auf einen kleinen hügel hinauf. unten schubsen die polizisten jemanden hin und her, geschrei ist zu hören.
drei arabische mädchen kommen auf uns zu.
wie heißt ihr, fragen sie uns in perfektem hebräisch.
avishag und ich antworten.
und wie heißt ihr? fragt avishag zurück.
sie lernt seit zwei jahren arabisch und knüpft in dieser sprache an die unterhaltung an.
fasziniert betrachte ich den totenkopfanhänger des größten der mädchen, den sie über ihrem hello kitty t-shirt trägt.